Gerechtigkeit

Ein armer Mann und ein reicher Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: "Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich!"

Berthold Brecht

Was ist Gerechtigkeit?

Wir glauben nicht daran, dass es so etwas wie “objektive Gerechtigkeit” gibt. Kein Super-Guru sagt uns, welche Maßstäbe anzulegen sind. Keine Gottheit sorgt für Gerechtigkeit in der Welt. Die Antworten auf die Frage, ob etwas gerecht ist oder nicht, werden von Menschen gegeben. Regeln, die Gerechtigkeit ermöglichen sollen, werden von Menschen gemacht.

Man könnte argumentieren, dass Gesetze für die Durchsetzung von Gerechtigkeit sorgen, die Geschichte lehrt jedoch, dass zum Einen auch ein hochentwickeltes Rechtssystem nicht immer für Gerechtigkeit sorgt, zum Anderen große Ungerechtigkeiten wie wirtschaftliche Ausbeutung vom Gesetz nur wenig berührt werden. Außerdem: Ist es schon gerecht, wenn alle die gleichen formalen Rechte haben? Reicht es, wenn alle das gleiche dürfen und vor die gleichen Herausforderungen gestellt werden? Ein Fisch, ein Affe und ein Elefant werden es - vor die gleiche Aufgabe gestellt, auf einen Baum zu klettern - wohl unterschiedlich schwer haben. Es ist daher notwendig, den Gerechtigkeitsbegriff mit einem politischen Verständnis von Recht und Unrecht aufzuladen. In einer Demokratie so wie wir sie verstehen reicht es nicht, wenn alle formal die gleichen Rechte haben. Es muss daran gearbeitet werden, dass alle auch real die gleichen Möglichkeiten haben. Das betrifft Fragen des wirtschaftlichen Wohlergehens von lohnabhängigen Menschen und ihren Familien genauso wie Bildungszugänge und die Einbindung aller Menschen in gesellschaftliche und demokratische Prozesse. Unser Verständnis von Gerechtigkeit beinhaltet gerechte Chancenverteilung für Kinder, gerechte Verteilung von Vermögen, sowie allgemeine Teilhabe und Zugang zu allen zugesicherten Menschen- und Kinderrechten. Dafür braucht es nicht nur gleiche Rechte. Es ist notwendig, Menschen aktiv so zu unterstützen, dass sie auch die gleichen Möglichkeiten haben wie andere.

 

Wie ist eine Welt der Gerechtigkeit?

Die Kinderfreunde setzen sich für eine Welt ein, in der…

…die Talente und Interessen von Kindern über ihren Lebensweg entscheiden und nicht ihre geographische oder soziale Herkunft.

…das Bildungssystem dazu da ist, die Köpfe von Kindern zu “öffnen” und sie zu emanzipieren, statt sie auszusortieren und ausschließlich für den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

…alle Menschen Zugang zu gesellschaftlichen Vorgängen und Mitsprache bei Entscheidungen haben, die sie betreffen. Das betrifft Bereiche wie Politik, Verwaltung, Schule, Arbeitsplatz und viele mehr.

…lohnabhängige Menschen in gerechter Weise am Wachstum und Erfolg beteiligt werden, der durch ihren Arbeitseinsatz erzielt wird und so die Anhäufung von Vermögen bei einigen wenigen verhindert wird.

…Steuereinnahmen von Staaten dazu eingesetzt werden, ungerechte Verteilung auszubessern bzw. Zugänge zu ermöglichen.

…kein Mensch Hunger leiden muss und Reichtum auch auf globaler Ebene gerecht verteilt ist.

 

Wie ist die Welt in der wir leben?

Allein in Österreich leben 78.000 Millionär*innen, gleichzeitig sind über 1.200.000 Menschen armutsgefährdet.[1] Es ist schwer zu glauben, dass eine solche Ungleichheit aus einer fairen und gerechten Verteilung entstanden ist. Wenn man sich die reichsten der Reichen genauer anschaut, wird es noch deutlicher: Von den acht reichsten Österreicher*innen sind die Hälfte Erb*innen. Allein diese vier Personen haben einen Gesamtbesitz von über 50 Milliarden (!) Euro. Diese Menschen kamen also dadurch zu ihrem Besitz, indem sie von den richtigen Eltern geboren wurden. Sie haben alle Chancen, alle Möglichkeiten und können sich so entfalten, wie sie es wollen. Genau das gleiche wünschen wir Kinderfreunde uns für die restlichen sieben Milliarden Menschen auf der Welt, die können davon nämlich nur träumen, egal wie fleißig sie sind. Für ein Kind aus einer Arbeiter*innenfamilie in Österreich ist die Chance auf einen Universitätsabschluss achtmal niedriger als für Kinder einer Akademiker*innenfamilie. Niedrigerer Bildungsabschluss führt zu niedrigerem Einkommen und zu einer nächsten Generation, die vor genau dem gleichen Problem steht. Kurz: Armut wird vererbt, genau wie Reichtum.

Diese ungerechte Verteilung in Österreich ist ein großes Problem. Wir dürfen jedoch nicht die Augen vor der globalen Perspektive verschließen, auch wenn es schwer fällt. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren auf diesem Planeten, 800 Millionen Menschen leiden an chronischem Hunger.[2] Jean Ziegler trifft mit seinen Ausführungen den Nagel auf den Kopf, denn er sagt „Wir lassen sie verhungern“. Diese unvorstellbare Zahl schmerzt beim Lesen, doch trotzdem haben wir uns irgendwie daran gewöhnt und gelernt es auszublenden. Hätten wir es nicht, wir könnten keine Sekunde darüber diskutieren, wie wichtig Bildungskarrieren, Medienkompetenz oder Zweisprachigkeit für unsere Kinder sind, während ein paar tausend Kilometer südlich von uns Kinder wie die Fliegen sterben. Es ist ein Schutzmechanismus, denn ganz tief in uns drin wissen auch wir, wer denn in diesem Spiel, in dem es so viele Verlierer*innen gibt, die Gewinner*innen sind. Es muss große politische Lösungen für die humanitäre Katastrophe geben, die unser kapitalistischer Lebensstil verursacht. Jedoch führt diese massive Ungerechtigkeit dazu, dass wir uns macht-, chancen- und wehrlos fühlen.

Gerechtigkeit fällt nicht vom Himmel und sie ist auch kein Zustand, der eintritt, wenn die Rahmenbedingungen dafür geschaffen würden. Es ist ein stetiger Kampf, den die Gesellschaft führen muss, um Gerechtigkeit zu erzielen, zu behalten und auszubauen. Der Grund dafür ist, dass die wachsende Ungerechtigkeit in der Gesellschaft nicht zufällig passiert. Es ist kein „Systemfehler“, dass Verteilung so passiert, es ist die Basis des Systems. Die neoliberale, turbokapitalistische Weltordnung lebt von Ausbeutung, Ungleichbehandlung und ungerechter Verteilung und führt zur Verschärfung sozialer Unterschiede. Die Schere zwischen arm und reich geht nicht durch die Schwerkraft auseinander, sondern weil sie jemand öffnet. Diese Leute haben sich bequem eingerichtet. Sie beeinflussen Gesetze, Normen und ein Gesellschaftsbild, das uns jeden Tag zeigt, wie  aussichtslos ein Kampf gegen dieses System ist, das scheinbar unveränderbar wie ein Naturgesetz ist. Dagegen haben wir keine Chance. Doch die müssen wir nützen.

 

Wir verändern die Welt!

Wer die großen Missstände und Ungerechtigkeiten dieser Welt im Blick hat, möchte glauben, dass er oder sie alleine nichts ändern kann. Eine Welt, die im Großen aus dem Ruder läuft, führt deshalb auch im Kleinen zu Ratlosigkeit, Apathie oder Zynismus. Doch jede Veränderung beginnt mit einem ersten Schritt. Jede*r kann etwas tun.

So beginnt auch Gerechtigkeit im Kleinen. Die meisten Kinder haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn: Sie verachten unfaires Verhalten, suchen Hilfe, wenn sie Probleme haben und helfen zusammen, wenn sie vor Herausforderungen stehen. Doch irgendwann im Leben eines Kindes kommen dann zum ersten Mal die „Ist-Halt-Sos“ und „Muss-So-Seins“, die ihnen klarmachen, dass sie ihren Gerechtigkeitssinn hintan stellen sollten, weil die Welt nicht so funktioniert. Weil am Ende eben doch meist jene gewinnen, die am unfairsten spielen. Das wird ihnen so lange erzählt und vorgelebt, bis sie es akzeptieren, aufnehmen und am Ende zu Erwachsenen werden, die das Spiel genauso weiterspielen. Diesen Kreis wollen wir durchbrechen. Dort wo Kinderfreunde pädagogisch arbeiten, wird Gerechtigkeit gelebt. Da steht Kooperation vor Konkurrenz, da werden Spiele gespielt, in den es nicht darum geht, die anderen mit allen Mitteln zu übertrumpfen. Gleichzeitig steht neben der pädagogischen Praxis auch der gesellschaftspolitische Auftrag: Bei den Kinderfreunden sind alle Kinder willkommen, unabhängig von sozialer Herkunft. So kommen Kinder in den Genuss von Angeboten, die ihnen aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten anders nie offen gestanden wären.

Im Rahmen der Arbeit der Kinderfreunde und Roten Falken wird auch das Thema Konsum explizit mit Kindern behandelt. Neben der Schaffung von konsumfreien Räumen erleben Kinder bei den Angeboten der Kinderfreunde und Roten Falken, dass Werte wie Freundschaft oder Solidarität erfüllender sind als das Streben nach Reichtum und Macht. Das Zusammenleben von Kindern unterschiedlicher sozialer und kultureller Hintergründe ist eine Erfahrung, die größeres Verständnis für Gesellschaftsstrukturen fördert. So erleben Kinder, dass der Mensch mehr zählt, als seine Herkunft oder die Geldbörse der Eltern. All das führt dazu, dass Kinder, die Angebote der Kinderfreunde und Roten Falken in Anspruch nehmen, ihren Gerechtigkeitssinn nicht verlieren. Denn für eine neue Welt braucht es Menschen, die nicht nur mit den Schultern zucken, wenn Ungerechtigkeit geschieht, sondern aktiv für mehr Gerechtigkeit sorgen wollen. In letzter Konsequenz bedeutet das natürlich auch, das aktuell herrschende System in Frage zu stellen und über Alternativen nachzudenken. Dazu müssen sie lernen, Ungerechtigkeit zu erkennen, die Gründe dafür zu analysieren und einen Weg zu finden, sie zu beseitigen. Das wollen wir ihnen vorleben, mitgeben und gemeinsam mit ihnen dafür eintreten, dass die Welt ein gerechterer Ort wird.

Quellenangabe

[1] http://jahoda-bauer-institut.at/ohne-armut-kein-reichtum/

[2] http://de.wfp.org/hunger/hunger-statistik