UNFASSBAR UNFAIR

Expertinnen-Interview mit Anna Majcan

Carearbeit wird in österreichischen Familien zu einem überwiegenden Teil von Frauen geleistet. Der Gender-Care-Gap beträgt satte 43%. Warum schaffen wir es auch in aufgeklärten, progressiven Partner:innenschaften so schlecht, eine faire Aufteilung der Sorgearbeit zu leben? 

Zwischen Aufgeklärt-Sein und Aufgeklärt-Handeln ist immer noch ein großer Unterschied. Ich kann eine progressive Partner:innenschaft in vielen Bereichen leben, oder ich kann es zumindest versuchen. Ich werde mich aber nur schwer von Rollenbildern lösen, mit denen ich aufgewachsen bin. Die haben sich in uns unterbewusst festgebrannt. Die Gesellschaft und das System tun dann ihren Rest, indem sie uns, oft subtil, in genau diese Rollen drängen. Der Gender Pay Gap zum Beispiel, der hält sich über alle Familien hinweg, in jenen, in denen beide Akademiker:innen sind, wird er sogar noch größer. Und wenn es dann um die Aufteilung der Karenz geht, dann wählen Familien oft das Modell mit den geringsten finanziellen Einbußen. Das heißt dann meistens, die Frau nimmt den Großteil der Karenzmonate in Anspruch. Während die jungen Väter absurderweise die meisten Überstunden machen. 
Individuell ein finanzielles Opfer zugunsten einer fairen Aufteilung zu bringen, machen doch die wenigsten, egal wie progressiv sie sein möchten. Obwohl wir wissen, dass, wenn Männer mehrere Monate in Karenz gehen, sie auch nach der Karenz häufiger einen fairen Anteil an der Care-Arbeit leisten. Es ist ein bisserl ein Teufelskreis. Aus dem man nur rauskommt, wenn man bereit ist, individuell zurückzustecken. Dass sich das nicht alle Familien leisten können, ist auch klar. Deswegen muss die Politik Verantwortung übernehmen, indem sie ein Karenzmodell schafft, das beide Elternteile in die Sorgepflicht nimmt, und nicht ein Modell weiterführen, das auf finanziellen Entscheidungen basiert. Für eine positive Veränderung müssen aber alle an einem Strang ziehen, also Politik, Unternehmen und die Familien selbst auch… 

 

Heuer wurde an den großen Frauenstreik in Island vor 50 Jahren erinnert, in Österreich gab es im Oktober einen FrauenStreik, in der Literatur wie in Und alle so still von Mareike Fallwickl taucht das Thema auf. Brauchen wir einen flächendeckenden Carestreik? Müssen Frauen wirklich alles hinlegen, damit sich endlich etwas bewegt?

Ich würde gerne sagen, dass das nicht notwendig ist, aber ich glaube mittlerweile, dass sich nur etwas ändert, wenn sich Frauen flächendeckend zusammentun und gemeinsam aufstehn. Oder eben sich und ihre Arbeit hinlegen. Das System funktioniert, indem wir alle mitspielen. Es funktioniert, weil viele Frauen Allgemeinwohl über persönliches Wohl stellen. Das ist ja allgemein bekannt – deswegen ist es auch so einfach, Frauen in unserem System auszubeuten. Wir bezahlen Frauen in den typischen „Frauenbranchen“ schlecht, und wir bezahlen sie für einen riesigen Batzen Care-Arbeit gar nicht. Wir können so viel argumentieren, wie wir wollen, wir können Forderungen stellen, oder Vorschläge für ein alternatives Staatsbudget liefern. Solange alle Frauen weitermachen wie bisher, ist es für den Staat, und ehrlicherweise auch für enorm viele Männer, zu bequem und zu lukrativ, um etwas zu ändern. Deswegen müssen wir ein wirklich deutliches Statement setzen, das weh tut. Und weh tuts erst, wenn wir nicht mehr so weitermachen wie bisher. Wenn wir alles stehen lassen. Und das System zusammenbricht.

 

Wie schaffen wir es, dass die Debatte aus den feministischen Zirkeln raus zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion wird? Weil betreffen tut das Sorgethema ja alle- jeder und jede braucht in seinem und ihrem Leben irgendwann Care. 

Diese Frage stellen wir uns ehrlicherweise oft selber. Ich glaube, wir Feministinnen müssen zugeben, dass wir Care-Diskussionen lange in unseren eigenen Räumen geführt haben, und zwar in einer Sprache, die außerhalb unserer Blase nicht genug Menschen erreicht hat. Alleine das Wort „Care“ wird von vielen noch immer nicht verstanden oder kann richtig eingeordnet werden. Damit sich alle Menschen, oder möglichst viele Menschen, abgeholt fühlen, müssen wir in einer Art und Weise kommunizieren, die auch möglichst viele Menschen anspricht. Dass sich die, die auf Care angewiesen sind, und die, die Care leisten, auch bei diesem Thema gehört fühlen. Weil oft sind sie es, die durch die Care-Belastung dermaßen überfordert sind, dass sie sich nicht selbst einsetzen können. Logisch, wenn es um sie herum gerade brennt.

Und was wir schon auch sehen, ist, dass die Gesellschaft, Politik und die Medien Care als „Frauenthema“ abtun, anstatt es als gesamtgesellschaftliches Querschnittsthema zu bearbeiten. Menschen müssen verstehen, dass wir nur durch Care-Arbeit überleben können. Dass ohne Care gar nix mehr geht. Darüber muss berichtet werden.

 

Müssen wir das tradierte Bild der Kleinfamilie – Mama, Papa, Kind – grundsätzlich hinterfragen, wenn wir über Caregerechtigkeit reden? Welche anderen Familien- und Sorge-Modelle könnten helfen, Care fairer zu verteilen?

Wir müssen auf jeden Fall aufhören, das Thema „Care“ als Privatsache abzutun und nur innerhalb der „Kernfamilie“ zu behandeln. Unsere Gesellschaft ist leider noch immer stark konservativ geprägt, mit den klassischen Lebenszielen Heiraten, Einfamilienhaus, Kinder. Wer mit Kindern in einer Wohngemeinschaft wohnt, wird schon fast als außerirdisch angeschaut. Dabei können gemeinschaftliche Wohnmodelle mit geteilter Fürsorge stark entlasten. Das war ja früher auch so mit den Mehrgenerationenhaushalten. In diese Zeit und in diese tradierten Rollen wollen wir natürlich nicht zurück, aber die damals notwendige gegenseitige und vor allem selbstverständliche Unterstützung, von der könnten wir heute ein bisserl mehr gebrauchen. So nach dem afrikanischen Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. 
Ein wertvolles Modell, das zurzeit immer mehr Beachtung bekommt, ist das der sogenannten „Caring Communties“, also der sorgenden Gemeinde oder Gemeinschaft. Dabei geht es um eine Art Sorgekultur oder Sorge-Netzwerk innerhalb einer Nachbarschaft. Die Ausgestaltung ist unterschiedlich, meistens ist es eine Mischung aus professionellen Dienstleister:innen und engagierten Bewohner:innen des Grätzels. Das Care-Thema wird ins Zentrum gestellt, und rundherum wird eben geschaut, wer gerade was braucht, es geht um Achtsamkeit, Respekt und auch viel um soziale Teilhabe. Sowas aufzubauen kostet aber Zeit, Geld und, wenn wir das Modell wirklich etablieren wollen, politischen Willen.

 

In lateinamerikanischen Ländern ist die Diskussion schon wesentlich weiter als bei uns – dort wird zB das Recht auf Care diskutiert bis dazu, das in den Verfassungen zu verankern. Wärst du dafür, das Recht auf Care festzuschreiben?

Klar wäre ich dafür, das Recht auf Care festzuschreiben. Wir alle brauchen Pflege zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben. Ohne Care würden wir nicht leben und überleben können. Wenn das Recht auf Care in der Verfassung verankert ist, ist der Staat voll in der Verpflichtung, dieses Recht zu gewährleisten – dann reicht es nicht mehr, drauf zu hoffen, dass es „die Frauen eh richten werden“. Care wird von einer privaten Angelegenheit plötzlich zur umfassenden öffentlichen Verantwortung. Und damit auch zu einem wesentlichen Hebel für Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft. 
 

Wie wirkt sich die ungleiche Verteilung von unbezahlter Sorgearbeit in der Familie ökonomisch auf Frauen aus?

Schlecht. Und zwar durch die Bank. Frauen verdienen durchschnittlich deutlich weniger als Männer, obwohl sie insgesamt mehr Stunden täglich arbeiten, nur eben mehr Stunden unbezahlt. Durch die vielen unbezahlten Arbeitsstunden, die stattdessen ja auch am Arbeitsmarkt geleistet werden könnten, entstehen einer Frau hier in Österreich Einkommensverluste von durchschnittlich 28.000 Euro pro Jahr. 28 Tausend Euro!

Und das ist ja auch ein Mitgrund für die große geschlechtsspezifische Einkommenslücke. Der Gender Pay Gap in Paarhaushalten beträgt im Schnitt 40%, mit Kindern unter 6 Jahren sogar über 50%. [AM1] Das führt logischerweise häufig zu finanzieller Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit erhöht wiederum das Risiko für Gewalt in der Beziehung und erschwert es einer Frau, sich zu trennen, ob Gewalt im Spiel ist oder nicht. Dabei hab ich noch nicht einmal das Altersarmutsrisiko erwähnt. Frauen sind in ihrer Pension leider nicht selten armutsbetroffen, und auch wenn es suggeriert wird: Es liegt nicht am individuellen Versagen. Die ungleiche Verteilung von unbezahlter Sorgearbeit ist einfach unfassbar unfair, sie hat ökonomische Nachteile und darüber hinaus auch noch gesundheitliche. Frauen leben zwar länger als Männer, aber verbringen mehr Lebensjahre in schlechterer Gesundheit, und das liegt nicht zuletzt an der Mehrfachbelastung durch Care- und Erwerbsarbeit.

 

Wie würdest du das Zusammenspiel von Patriarchat und Kapitalismus in Bezug auf familiäre Carearbeit beschreiben – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie gleichzeitig der größte Wirtschaftssektor und größtenteils unbezahlt ist.

Patriarchat und Kapitalismus gehen leider ganz oft Hand in Hand. Auch bei familiärer Carearbeit. Das Patriarchat schreibt Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter zu und der Kapitalismus profitiert davon, dass die Arbeit, die damit einhergeht, unentgeltlich im privaten Bereich geleistet wird. In Österreich wird dadurch eine Wertschöpfung von 100 Milliarden [AM2] Euro geschaffen – quasi ohne dass Kosten entstehen. Diese Ungerechtigkeit wird vom Kapitalismus aufrechterhalten, weil das Patriarchat sie legitimiert. Und beide profitieren davon, tagtäglich.

 

Welche Modelle oder politischen Maßnahmen siehst du, um Carearbeit – bezahlt und unbezahlt – besser zu vergüten? Stichwort Arbeitszeitverkürzung und finanzielle Anerkennung.

Care muss ins Zentrum der Wirtschaft gerückt werden, das bedeutet unter anderem, dass Care-Berufe, frauendominierte Berufe, einen ganz anderen Stellenwert bekommen müssen und deutlich besser bezahlt werden sollten. Und wir brauchen Arbeitsbedingungen, die es jenen, die in diesen Jobs arbeiten, auch ermöglichen, ihren Job lange, gesund und zufrieden zu machen. Sonst bringt auch das beste Gehalt nichts. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre es eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für alle, damit innerhalb von Familien unbezahlte Carearbeit und Erwerbsarbeit fair aufteilt werden kann. Und ehrlicherweise auch ein Karenzmodell, das für beide Elternteile eine gewisse Anzahl an Monaten vorsieht, ohne Nachteile für Alleinerziehende. Dass das funktioniert, sehen wir zum Beispiel in Island, wo über 90% der Väter in Karenz geht. Es gibt Best Practice Beispiele aus anderen Ländern, es gibt Studien, die den Erfolg von 30-Stunden-Wochen belegen, jetzt ist es nur mehr an der Zeit, dass die Politik den nächsten Schritt macht. Damit sie dann nicht überrascht ist, wenn das System doch zusammenbricht, weil Frauen es plötzlich nicht mehr stützen.

Möchtest du abschließend noch was sagen? 
Ja! Das Patriarchat, das die Geschlechterrollen in unserem System aufrechterhält, ist ja für alle schlecht, auch für Männer. Auch Männer leiden drunter. Care-Gerechtigkeit lässt sich am einfachsten miteinander als Verbündete erreichen.

 

 [AM1]https://www.momentum-institut.at/publikation/equal-pay-day-2025-lohnluecke-in-paarhaushalten/

 [AM2]https://news.momentum-institut.at/p/weltfrauentag-unbezahlte-arbeit-als-sterreichs-gr-ter-wirtschaftszweig

Bild von Anna Majcan
(c) Barbara Majcan

Anna Majcan ist Mitgründerin und Obfrau des Vereins “Catcalls of Graz” und Mitinitiatorin der “Galerie gegen Sexismus“. Seit März 2023 ist sie Geschäftsführerin und Frauensprecherin des Grazer Frauenrats und bei der Initiative „Fairsorgen“ aktiv.