Machen wir für den Einstieg ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Schulklasse vor, die aus einer völlig homogenen Schüler*innengruppe besteht. Ihre Interessen und Neigungen, Stärken und Schwächen sind also völlig identisch. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass das für die Lehrer*innen ganz toll wäre – sie müssten sich nicht überlegen, wie sie mit den Unterschiedlichkeiten von Schülern und Schülerinnen umgehen. Denn die würde es ja nicht geben. Um den Gedanken weiterzuspinnen könnten wir ja auch annehmen, dass diese Kinder besondere Begabungen in Mathematik haben könnten. Dafür könnten sie in Sprachen ziemlich untalentiert sein. Im Sport wären sie lausig und in Musik wären sie vielleicht wiederum begabt.
Das Zusammensein und das Voneinanderlernen in der Klasse wäre in Wirklichkeit eine sehr eindimensionale Angelegenheit. In jenen Gebieten, die alle interessieren würden sich die Schüler*innen gegenseitig unterstützen und motivieren. In den anderen Gegenständen würden sie sich gegenseitig blockieren und demoralisieren. Letztendlich würden in derartigen Klassengemeinschaften die Schüler und Schülerinnen zu sehr einseitigen Spezialist*innen heranwachsen.
Wir als Kinderfreunde haben derartige Einseitigkeiten in der Bildung und Erziehung immer abgelehnt. Kinder und Jugendliche sollen sich vielseitig interessieren und entwickeln, sollen so zu starken Individuen heranwachsen. Notwendig dafür ist Vielfalt in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, denn nur diese gewährleistet die unterschiedlichen Impulse und Anregungen, die gebraucht werden. Um bei der Überlegung von oben fortzusetzen: In Klassen mit sehr unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen, die sich in ihrer Verschiedenartigkeit gegenseitig unterstützen und herausfordern ist es möglich die Einzigartigkeit von jedem und jeder bestmöglich zu fördern. Wieder ganz konkret ein Beispiel: Jene die hervorragende Leistungen in Mathematik erbringen sind vielleicht in Deutsch nicht gut. Sie können aber noch besser in Mathematik werden, wenn sie jene fördern und unterstützen, die schlecht in Mathe sind. Möglicherweise sind die wiederum gut in Deutsch und können den guten Mathematiker*innen bei den Aufsätzen helfen. Das ist unser Bild von Inklusion: Jede*r bringt seine*ihre Stärken in die Gemeinschaft ein, ohne dass sich jemand an die anderen anpassen oder angleichen muss. Wenn jemand Schwächen hat, wird ihm*ihr geholfen, wenn er*sie Stärken hat, hilft er*sie damit jemandem anderen. Hier unterscheiden wir uns von den Integrationsideen derer, die eine Anpassung oder Assimilierung fordern, gestützt auf die dogmatische Annahme, dass die „österreichische Kultur“ eine besonders erhaltenswerte und anderen Kulturen überlegene sei.
Damit ist aber deutlich, dass Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit in Gemeinschaften kein Problem, sondern Voraussetzung für eine gute und demokratische Gemeinschaft sind. Das gilt nicht nur für Schulklassen, sondern für die gesamte Gesellschaft!
Was ist „Vielfalt“?
Wenn wir von „Vielfalt“ reden, dann bedeutet das für uns, dass es Unterschiede gibt, aber wir meinen damit keine Bewertung mit den Kriterien „besser“ und „schlechter“. Eine vielfältige Gemeinschaft lebt davon, dass es Unterschiedlichkeiten gibt, aber es heißt eben nicht, dass die einen Mitglieder der Gemeinschaft mehr wert sind, als die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft.
Für uns als Organisation bedeutet Beschäftigung mit Vielfalt klarerweise auch Beschäftigung mit der eigenen Vielfalt. Wenn wir analysieren, dass die Gesellschaft vielfältig ist, die Strukturen der Kinderfreunden jedoch nicht, dann ist das eine Schwäche, die wir als Organisation haben. Es ist daher unser Ziel, Vertreter*innen verschiedenster Bevölkerungsgruppen auch in unseren ehrenamtlichen und hauptamtlichen Strukturen einzubinden. Hier reicht es nicht, „für alle offen“ zu sein, es muss eine aktive Anstrengung von uns ausgehen um auf Menschen zuzugehen, die unterschiedliche soziale, kulturelle oder körperliche Lebenshintergründe haben und diese in unsere Arbeit einzubinden.
Zum Beispiel bezieht sich das auf folgende Vielfältigkeiten:
- Männer und Frauen sind in vielerlei Hinsicht gleich, in manchen Bereichen sind sie auch verschieden. Männer und Frauen müssen daher gleichberechtigt miteinander leben, lernen und arbeiten, ihre mögliche „Ungleichheit“ darf keine Benachteiligung oder Entwicklungsbegrenzung bedeuten.
- Kinder haben andere Bedürfnisse als Jugendliche und diese wiederum brauchen andere Dinge und Verhältnisse als Erwachsene. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf Augenhöhe miteinander umgehen – Bevormundung und Ausgrenzung dürfen keinen Platz im Zusammenleben haben.
- Es gibt unterschiedliche Formen der Sexualität bei den Menschen. Jahrhundertelang behauptete vor allem die Kirche, dass nur die „klassische“ Mann-Frau-Beziehung normal und erlaubt sei. Und auch diese Form der Sexualität wiederum nur in der Ehe. Heute ist Vielfalt in der sexuellen Orientierung für uns selbstverständlich, solange die Partner gleichberechtigt und gleichwertig sind.
- Wir erleben seit Jahrzehnten, dass in Österreich eine wachsende Zahl der Einwohner*innen aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten zugewandert sind. Damit gibt es im Land Einwohner*innen, deren ethnischer, religiöser oder sprachlicher Hintergrund anders ist. Diese Neu-Österreicher und Neu–Österreicherinnen sind Teil der Vielfalt im Land.
- Menschen mit Behinderungen sind längst in unsere Gesellschaft weitreichend inkludiert. Überall in der pädagogischen Arbeit sehen wir, wie bereichernd die Teilhabe von Kindern mit Behinderungen in Gruppen ist. In unserer eigenen Ehrenamtsstruktur sind Menschen mit Behinderungen jedoch nicht ausreichend vertreten, hier müssen Anstrengungen unternommen werden, um diese Gruppe aktiv in das Geschehen einzubinden.
Derzeit ist bei uns sicher die Frage der Vielfältigkeit ethnischer und der nationalen Herkunft das komplizierteste Thema. Kompliziert ist es aus verschiedenen Gründen. Zum Beispiel ist es relativ neu. Noch vor drei oder vier Jahrzehnten gab es bei uns in Österreich diese Form der Vielfalt anscheinend kaum. Besonders in den städtischen Ballungsräumen ist es aber – insbesondere in Schulen – jetzt allgegenwärtig. Schauen wir uns diese Frage aber in der Geschichte an, dann wird schnell deutlich, dass vor gut hundert Jahren im Österreich der Habsburger-Monarchie sehr viele Männer, Frauen und Kinder aus den tschechischen, kroatischen, ungarischen, polnischen usw. Teilen des Kaiserreichs ins deutschsprachige Österreich gekommen sind. Genau diese Vielfalt macht Österreich seit jeher aus. Darum gibt es bei uns viele angebliche „Urösterreicher und Urösterreicherinnen“, die Nowotny, Horak oder Kolaric heißen.
Österreich ist ein Einwanderungsland. Der Anteil der Bevölkerung, die im Ausland geboren wurden, betrug Anfang 2007 etwa 15%. Je jünger die in Österreich lebenden Menschen sind, desto höher ist dieser Anteil. Der Anteil der Schüler und Schülerinnen in Österreichs Volksschulen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, liegt im Durchschnitt bei knapp über 20%. Je nach Bundesland ist das aber sehr unterschiedlich: In Wien sind es rund 48% und in Kärnten aber nur 10,5%. Kompliziert ist dieses Thema auch, weil es oft nicht nur darum geht, miteinander lernen und leben zu lernen, sondern auch weil manche eine Wertung „richtig“ und „falsch“ damit verbinden. Vielfalt wird somit politisch bekämpft und Menschen und ihre Lebensformen werden als „schlechter“ eingestuft. Das steht aber eindeutig im Widerspruch zur Freiheit, zur Gleichheit und zur Demokratie.
Den neu zugezogenen Einwohner*innen Österreichs wird dann von politisch ganz rechts stehenden Politikern und Politikerinnen bzw. deren Parteien vorgeworfen, dass sie an der Arbeitslosigkeit, an geringen Löhnen, an der steigenden Kriminalität oder an schlechten Schulerfolgen schuld seien. Schuld an diesen Entwicklungen sind aber nicht „die Ausländer“, sondern meist die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Etwa verursacht die Wirtschaftskrise oder gieriges Gewinnstreben die Arbeitslosigkeit und nicht die Arbeitskräfte aus dem Ausland. Oder am mangelnden Schulerfolg sind zu geringe finanzielle Ressourcen für den Bildungsbereich und der mangelnde Wille, entsprechend umfangreiche Förderungsmaßnahmen einzurichten, verantwortlich und nicht Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache.
Wir verändern die Welt!
Wir Kinderfreunde werden unseren Beitrag zu einem bunten Leben und einer bunten Gesellschaft liefern. Wir wollen keine Eintönigkeit, sondern die Vielfalt der Möglichkeiten und Chancen. Zum Beispiel wollen wir nicht nur, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund an unseren Aktivitäten teilnehmen, sondern dass sich diese Gruppen auch aktiv einbringen und als Mitarbeiter*innen und Funktionär*innen mitentscheiden. Damit leisten wir einen Beitrag, dass diese Kinder und Familien mehr Möglichkeiten haben und wir zeigen, dass das Zusammenleben aller nicht nur den „anderen“ hilft, sondern für alle Vorteile bringt. Überall wo es Benachteiligung und Ausgrenzung gibt, wollen wir dafür eintreten, dass dies beendet und überwunden wird. Bei den Kinderfreunden steht das „WIR“ im Mittelpunkt – so heißt es bei uns auch weiterhin ICH=ICH und DU=DU, weil niemand seine Identität und Herkunft aufgeben muss, aber trotzdem ICH+DU=WIR! Und darauf sind wir stolz.